Zeilenschinden – aber richtig!

Nehmen wir einfach mal das folgende schöne Beispiel aus dem Bremer ‚Weser-Kurier‘, das ich deshalb als Scan hier einstelle, weil man dort in der Redaktion noch nicht in der Zeit der Permalinks angekommen ist:

Gleich der erste Satz ist ein typischer Passivsatz, und der Kasus Knaxus und ‚Angelpunkt‘ versteckt sich in diesem ‚wird‘: ‚Nach aktuellen Hochrechnungen wird bis zum Jahr 2025 ein Wert von 759 Millionen Tonnen jährlich vorhergesagt, wie ein neues Gutachten im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums belegt‚. Ausweislich der Word-Buchstabenzählung frisst dieses passivische Untier satte 182 Anschläge (incl. Leerzeichen). Im Aktiv dagegen bekäme das Portemonnaie des Redakteurs auf der Einnahmenseite Schrumpelfalten – oder er könnte den vorgegebenen Gestaltungsraum nicht mehr mit buchstäblerischem Grauwert füllen: ‚Das Bundesverkehrsministerium schätzt derzeit, dass im Jahr 2025 der Frachtumschlag bei jährlich 759 Mio. t liegen dürfte‚. Das wären nur noch 113 Zeichen auf diesen simplen Sachverhalt – oder eine Reduktion um etwa 40 Prozent. Und das, obwohl ich ein Wort wie ‚Frachtumschlag‘ noch ganz neu in den Text hineinmontiert habe. 

Kurzum: Das Passiv ist eine erstklassige Möglichkeit, das Textaufkommen zu strecken – mit seiner Hilfe können wir sogar mit wenig Gedankeninhalt auf die redaktionelle Langstrecke gehen. Nehmen wir einfach den Folgesatz: ‚Daran wird Bremerhaven nach Expertenschätzungen voraussichtlich einen Anteil von 127 Millionen Tonnen haben, Wilhelmshaven wird mit dem Jade-Weser-Port (JWP) einschließlich der Kohle- und Mineralöltransporte dann bei 91 Millionen Tonnen liegen‚. Wenn wir diese Experten wieder als ‚Täter‘ im Satz ‚aktivieren‘, ergibt sich folgendes Bild: ‚Experten schätzen, dass Bremerhaven daran einen Anteil von 127 Mio. t hätte, Wilhelmshaven käme – incl. Jade-Weser-Port (JWP) und Kohle- sowie Mineralöltransport – auf 91 Mio. t.‚  Auch hier ‚siegt‘ das Passiv über das Gewissen des Sprachgestalters mit 243 zu 181 Anschlägen. Oder um anderthalb Zeilen à 20 Cent. 

Über die kleinen Tricks der Zeilenschinderei reden wir vielleicht beim nächsten Mal: zum Beispiel ‚Millionen‘ konsequent auszuschreiben, ebenso ‚Tonnen‘, oder ballaststoffreiche Füllwörter zu streuen, wo es nur geht: ‚voraussichtlich‘, ‚einschließlich‘, ‚aktuelle‘ usw.

2 Meinungen

  1. Vielleicht sollte man erst einmal darüber diskutieren, ob 20 Eurocent pro Zeile nicht in Richtung Ausbeutung geht. 100 Zeile = 20 Euro, wenn man Glück hat noch 15 Euro für das Bild sind satte 35 Euro, natürlich incl. Fahrkosten. Wie viele Beiträge muss man verkaufen, um das Gehalt eines Zugführers zu bekommen? Ansonsten, Text strecken ist immer blöd. Man verliert sehr leicht seinen Leser. Deshalb ist hier auch Schluss ;-)).

  2. Das ist richtig – Ausbeutung ist im journalistischen Bereich inzwischen die Regel, nicht die Ausnahme. Der DJV sieht meines Wissens ein Mindesthonorar von etwa 60 Cent je Zeile für feste Freie vor. Gezahlt wird aber immer öfter nur der Satz für Online-Freie von etwa 20 Cent je Zeile. So entsteht ein echter Teufelskreis: Gute Schreiber arbeiten nicht für ein Monatseinkommen unter 1.000 Euro bei 50 und mehr Wochenstunden, die gehen lieber irgendwo den Rasen mähen, der Rest knödelt nolens volens im Passiv herum, weil sie’s entweder nicht besser können, oder weil es mehr Geld für weniger Gedanken bringt. So sorgt das System selbst dafür, dass die Leser vor Langeweile laufen gehen, weshalb der Verleger wiederum die Kostenschere ansetzt, um die redaktionelle Bonsaihecke noch kürzer zu stutzen. Wer hat schuld? Das System natürlich …

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