Wenn ich mal groß bin

Was ihm allerdings nicht wirklich gelingt, das muss man gleich mal vorweg sagen. Eher bekommt man das Gefühl, dass er selbst gewaltige Schwierigkeiten hat, seine Jugend hinter sich zu lassen, denn er kennt sich erstaunlich gut aus in den Umhängetaschen dieser Generation.

Martin Reichert beginnt gut:

„Sie sind 34, tragen Drei-Tage-Bart am ganzen Kopf, ein verwaschenes American-Apparel Sweat-Shirt, Acne Jeans, eine Sonnenbrille, die größere Gläser hat, als Jacqueline Kennedy-Onassis sich jemals hätte vorstellen können – und morgens nach dem Aufstehen tut Ihnen der Rücken weh?"

Der Autor nimmt sich die für diese Altersgruppe angeblich typische Umhängetasche namens Montag oder so ähnlich vor und untersucht ihren Inhalt. Dabei findet er unter anderem Dinge wie die Zeitschrift Bunte, eine Tafel der Schokolade, deren Konterfei sich seit gefühlten 100 Jahren erst einmal probeweise verändert hat, ein weißes MacBook, einen iPod, Zigaretten und Kondome sowie eine Großpackung  Antidepressiva.

Die Idee ist witzig und sicher auch nicht abwegig, denn wenn man sich selbst irgendwo zwischen dreißig und vierzig bewegt, erkennt man einiges von dem, das angekreidet wird, wieder. Man kennt es von sich und man kennt es von anderen. Nie alles zusammen, nur das eine oder andere. Und genau das ist der Punkt: Warum sollte man, nur weil man sich der Vierzig nähert, plötzlich keine Kinderschokolade mehr essen?

Sicher, irgendwann ist es an der Zeit, das Terrain dem Nachwuchs zu überlassen, aber das heißt doch nicht, dass man sich plötzlich in Sack und Asche kleiden muss, oder? Und wie kann man sich als Erwachsener einer – wie es der Autor fordert – erwachsenen Beziehung stellen, wenn doch zum Beispiel das Gefühl des Verliebtseins sich nie ändert und einen immer wie mit 15 fühlen lässt? Man könnte statt dem Wort „Langzeitadoleszenz" auch den Ausdruck „Jung geblieben" verwenden – und das hat doch was, oder? Das wissen, auch wenn der Autor anderer Meinung ist, auch unsere Kinder zu schätzen und sie werden sicher ihren eigenen Weg finden, mit dem sie uns Mittdreißiger noch schocken können. Und wenn es die cremefarbenen Faltenröcke und Rüschchenblusen sind, in denen uns Martin Reichert, übrigens Redakteur bei der taz, wohl gerne sehen würde. Theoretisch zumindest. Aber immerhin gibt er zu, dass er selbst noch dabei ist, erwachsen zu werden. Und macht seine Fortschritte daran fest, dass sein Regal an die Wand gedübelt ist. Auf der anderen Seite  wehrt er sich dagegen, dass Erwachsensein bedeutet, ein Megaspießer im Reihenhaus zu werden. Und er behauptet, unsere Generation hätte sich noch nie wirklich für Politik interessiert. Sehr geehrter Herr Reichert, ich besitze eine dieser Umhängetaschen, esse Kinderschokolade und lese höchstvergnügt bisweilen die Bunte, aber ich besitze auch ein Reihenhaus, eine „erwachsene" Beziehung und bin seit meinem zwölften Lebensjahr politisch interessiert. Und ich kenne eine Menge Menschen, denen es so oder so ähnlich geht. Was, zum Teufel, sind wir dann: Langzeitadoleszentenspießer?

Martin Reichert: „Wenn ich mal groß bin", erschienen beim Fischer-Verlag im Juli 2008 als Taschenbuch für 8,95 Euro.

2 Meinungen

  1. Das Buch spricht so richtig aus meinem Herzen und aus dem Leben. Ich kann es nur empfehlen zu lesen oder als GEschenk an die großen Kinder weiter zu geben.

  2. Der Titel hört sich schwer nach „Generation Golf“-Abklatsch an…aber im Gegenteil. Geistesblitze, sinnliche Wortschöpfungen, treffsicherer Sarkasmus, und davon ein ganzes Buch voll. Alles was Stefan Niggemeier in der FAZ am Sonntag gelegentlich mal gelingt, erfreut uns hier ein ganzes Buch lang. Und es ist spooky, wie genau der Herr Reichert mich zu kennen scheint.

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