Rasender Stillstand

Laut einer Repräsentativbefragung aus dem Jahr 2004 haben 80,4 Prozent der Bundesbürger den Eindruck, dass sich ihr Leben in den letzten Jahren wesentlich beschleunigt habe. Es gibt dauernd etwas zu tun und zu erleben. Ständig scheint irgendjemand irgendetwas von einem zu wollen. Vieles erheischt unsere Aufmerksamkeit. Man kommt bei all den Anforderungen gar nicht richtig hinterher. Da wird die Zeit schon mal knapp. Und das, obwohl man den Eindruck haben könnte, sie im Überfluss gewonnen zu haben – dank all dieser technischen Hilfsmittel, die das Leben bequemer machen.

Aber nichts da. Zeitdruck und Zeitnot allenthalben und immerfort. Wie schön wäre es doch, könnte man das Leben „entschleunigen“. Zumindest ab und an mal. Um wieder Ruhe zu finden. Um die Dinge mit etwas mehr Gelassenheit angehen zu können. Um wieder bewusster zu leben, zu erleben. Das wird für die allermeisten ein frommer Wunsch bleiben.

Ein entscheidendes Charakteristikum unserer Epoche ist nun mal die Beschleunigung. Nach Hartmut Rosa, Professor für Soziologie in Jena, wären drei Dimensionen sozialer Beschleunigung zu differenzieren: die technische, die sozialstrukturelle sowie eine individuell-lebensweltliche, Dimensionen, die sich aber in der gesellschaftlichen Praxis wechselseitig bedingen und verstärken.

Technische Beschleunigung meint vor allem die technologische (maschinelle) Beschleunigung zielgerichteter Vorgänge. Unzählige technische Neuerungen haben es mit sich gebracht, dass immer schneller und immer mehr kommuniziert und produziert werden kann und dass sich Gegenstände, Menschen und Informationen immer rascher von einem Ort zum nächsten transportieren lassen. Der technische Fortschritt verlangt eine hohe Anpassungsfähigkeit der Menschen.

Einmal Erlerntes veraltet somit schneller und häufiger. Die Zeiträume, in denen handlungsleitende Erfahrungen und Erwartungen adäquat anwendbar sind, verkürzen sich zusehends. Immer häufiger muss man sich umorientieren, muss man dazulernen und neue Handlungspraktiken einüben. Die Folge ist eine Beschleunigung des sozialen Wandels.

Worauf mit einer Beschleunigung des Lebenstempos reagiert wird. Es soll und muss immer mehr in immer kürzeren Zeiteinheiten erlebt, verarbeitet und erledigt werden. Damit das überhaupt klappt, wird versucht, Leerzeiten zu vermeiden, Handlungen zu verdichten, gar mehrere simultan auszuführen (mittlerweile als „Multitasking“ geläufig).

Eine unkontrollierte Steigerung des Lebenstempos bringt die Menschen an ihre physischen Grenzen. Irgendwann sind die Kräfte und Zeitressourcen einfach überbeansprucht. Irgendwann ist der Punkt erreicht, ab dem sich die Handlungsgeschwindigkeit nicht mehr steigern lässt. Beschleunigungstechniken müssen her, Erfindungen, deren Einsatz Zeitersparnis verheißt. Also wird auf technische Beschleunigung gesetzt. Der Kreis schließt sich. Offensichtlich ist soziale Beschleunigung ein sich selbst antreibender und verstärkender Prozess, gleichsam ein Feedback-System.

Dieser angedeutete Zirkel – Rosa spricht vom „neuzeitlichen Akzelerationszirkel“ – ist selbstredend sehr viel komplexer als hier beschrieben. Seine mächtigste Triebfeder sind ohne Frage technologische Innovationen. Nur, welcher systemischen Rationalität müssen Beschleunigungstechniken in der Hauptsache gerecht werden? Man ahnt es: der Rationalität der Wirtschaft, eines gesellschaftlichen Teilbereichs, der seine ganz eigene Entwicklungsdynamik besitzt.

Denn – der Fingerzeig genügt eigentlich schon –: Time is money! Mit dem Faktor Zeit ist ökonomisch rational hauszuhalten. Auch für die Zeit gilt das ökonomische Prinzip: möglichst viel Output pro Zeiteinheit. Satte Gewinne winken, wenn man schneller als die Konkurrenz ist und steigende Wachstumsraten erzielt.

Rosa sitzt natürlich keinem ökonomischen Determinismus auf. Er benennt weitere „externe“ soziale Antriebsmotoren des Akzelerationszirkels: kulturelle und sozialstrukturelle Faktoren, auch gesellschaftliche Institutionen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet und etabliert haben, etwa der Nationalstaat, die Demokratie, die Bürokratie. Aus ihnen haben sich zum Teil wirkmächtige „Bremser“ der gesellschaftlichen Evolution gebildet, wahre Beharrungskräfte, die in einem geradezu dialektischen Verhältnis zur Beschleunigung stehen.

Wie lebt es sich denn in der „spätmodernen Beschleunigungsgesellschaft“, von der Rosa in seinem Buch spricht? Wie reagiert der einzelne, wie reagiert die Politik auf die Erfahrung permanenter Beschleunigung? Mit „reaktiver Situativität“!

Die Zeiten, in den noch groß geplant und gestaltet werden konnte, sind endgültig vorbei. Gefragt sind flexible Reaktionen, punktuell ansetzend, ohne Umwege und Zeitverlust ausgeführt. Notwendig ist die Konzentration auf den Augenblick, die geschrumpfte Gegenwart, von der aus Vergangenheit und Zukunft immer wieder neu gedeutet werden müssen.

Die strukturell „passende“ Identitätsform des Individuums könnte als „situative Identität“ beschrieben werden. Wer ich in einzelnen Situationen bin, wie ich auftrete, wie ich handle, entscheidet sich anhand des sozialen Kontextes, in dem ich mich gerade bewege. Das Leben fragmentiert sich, wird episodisch.

Zunehmend situationsfixiert zeigt sich auch die Politik. Sie geht pragmatisch vonstatten, würde mancher sagen, in kleinen Schritten, Trippelschritten, schnell, manchmal überstürzt. Was nicht weiter verwundert. Schließlich schrumpfen die Zeiträume für Entscheidungen. Die Zahl notwendiger Entscheidungen wächst, die Zeitressourcen pro Entscheidung werden knapper. Die Entscheidungsunsicherheit nimmt zu, berechenbar oder prognostizierbar ist kaum noch etwas, allerhöchstens in engsten Zeitkorridoren, von heut auf morgen sozusagen.

Was sind die Konsequenzen fürs politische System? Die Politik verlagert Entscheidungen in andere, schnellere Funktionssysteme, damit „zeitnäher“ und vielleicht auch zielgenauer entschieden werden kann. Es wird dereguliert und privatisiert, die Exekutive gewinnt die Oberhand über die Legislative.

Läuft die Politik nicht langsam Gefahr, ihre globale, funktionsübergreifende Steuerungskompetenz komplett einzubüßen? Eine Vorstellung, die beunruhigt. In so unruhigen Zeiten!

Worauf soll man denn noch bauen? Vieles gerät in Bewegung, verändert sich, ist unvertraut und entzieht sich unserer Kontrolle. Das ist die Kehrseite der sozialen Beschleunigung. Ungeachtet aller Betriebsamkeit um einen herum, der Hektik im Tagesablauf kann einen bisweilen das Gefühl beschleichen, dass es nicht richtig vorangeht. Nicht, dass die Zeit stillstehen würde, aber das eigene Leben. Man tritt auf der Stelle.

Der französische Philosoph Paul Virilio hat eine schöne Metapher für diese epochenspezifische Erfahrung gefunden: „rasender Stillstand.“ Mit Hartmut Rosa ließe sich das Bild vervollständigen. Dem Subjekt in der beschleunigten Spätmoderne wird das individuelle Leben wie ein rasender Stillstand auf rutschenden Abhängen („slipping slopes“) vorkommen. Stillstehen ist unmöglich. Festen Halt gibt es nur um den Preis der sozialen Exklusion. Also: Gib Gas, power los – oder du scheidest aus.

Hartmut Rosa: Beschleunigung

Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne

Suhrkamp Verlag

Frankfurt am Main 2005

Ein weiteres Appetithäppchen, das Lust auf dieses Buch macht, ist die Rezension „Atemlos“ von Thomas Assheuer aus der ZEIT vom 26. Januar 2006. Nachzulesen hier.

2 Meinungen

  1. Wunderbar resümiert! Ich werde auf dem Abhang runterrutschend dieses Buch über die Zeit in die Hand nehmen und sie lesend zum Stillstand bringen.Gruß nach St.Pauli

  2. hallo das Buch ich ziemlich gut :)aber da sind zu viele wörter drin!….

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