Macht ruhig mal ’ne Szene

Wenn schon die Augen mechanisch durch die Zeilen wandern müssen, dann wäre ein ebenso abwechslungsarm verlaufender Spaghetti des Erzählstrangs das beste Medikament für einen erholsamen Tiefschlaf des Lesers: «Dann verschloss er seine Wohnung, ging die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und trat auf die Straße. Einen Moment überlegte er, bevor er sich nach links wandte … usw.». Was soll uns das? 

Alle guten Erzähler verfahren daher nie, nie, nie so mechanisch. Sie springen von Szene zu Szene, hier malen sie jedes Detail aus, während dazwischen einzig und allein der Schnitt regiert: „Zwei Jahre später war Heinz Gerd dann verheiratet. Seine hochfliegenden Pläne begrub er im Einklang mit seiner Frau gleich zu Anfang, weit vor dem drohenden Knick in der Karriere …". Zack – und schon sind wieder zwei Jahre in diesem Entwicklungsroman unseres Weiberhelden vergangen.

Berühmt durch sein szenisches Verfahren wurde im 19. Jahrhundert Lew Tolstoi. In «Krieg und Frieden» geht es bspw. gleich nach der epischen Schilderung einer Hirschjagd über -zig Seiten im epischen Flicflac direkt zur Schlacht von Borodino. Trotzdem erfolgt kein Bruch der Handlung, denn die Handlung dieser 1.500 Seiten besteht ja gerade darin, an exemplarischen Figuren den faul-dekadenten Zustand der russischen Gesellschaft zu schildern. Deshalb müssen Exempel her, zum Beispiel das -zigfach zitierte Leeren der Wodkaflasche auf der Fensterbank, nicht ohne Grund eine der unvergesslichen Szenen der Weltliteratur: Eine zaristische Jeunesse dorée sieht so viel Sinn in ihrem Leben, dass sie um eines Momentes der Sensation und der Anerkennung willen dies Leben buchstäblich aus dem Fenster wirft.

Alle Literarhistoriker kennen auch das vergleichbare Beispiel einer losgerissenen Kanone, die über das Deck jenes Schiffes schlingert, das im Roman „1793" die Konterrevolution in die Vendée tragen soll. Seiten über Seiten schildert Victor Hugo hier, wie das entfesselte, symbolisch-revolutionäre Eisenmonstrum die adligen Träume schon im Ansatz zu versenken droht: «Gleich dem leibhaftigen Wagen aus der Apokalypse rollte die Kanone durch den Raum. Die große Laterne über dem Vordersteven der Batterie warf über den gespenstischen Vorgang einen zwischen Schatten und Licht schwankenden Schein. Die Umrisse des Geschützes schwanden in der Heftigkeit seines Laufes, bald tauchte es schwarz im Lichtenschein auf, bald warf es weißliche Schimmer durch das Dunkel. / Es vollzog weiter die Hinrichtung des Schiffes. …». Und so sechs atemlose Seiten lang.  

Auch weniger bekannte Autoren nutzen die „Inszenierung" virtuos. Der brasilianische Nobelpreisträger Jorge Amado beispielsweise, der immer im Bann der Kakaoplantagen von Bahia stand, schildert den Aufstieg einer „hinterhältigen" Stadt, der „Tocaia Grande", die sich vom Sumpfloch zur blühenden Metropole wandelt, die aber im seelisch-menschlichen Bereich immer das gleiche, alte Sumpfloch bleibt. Ganze Jahre rauschen im Roman im Nu an uns vorbei. Die Szene aber, wo der Neger Castor, der als Schwarzer die „weiße Kontrastfigur" in der allgemeinen Schweinerei dieser Bewohnerschaft darstellt, «um Gottes Lohn» der Leibhure eines Banditen den entzündeten Zahn zieht, obwohl ihm als einziger Dank ein Loch im Kopf droht, die umfasst viele Seiten. Handwerksgeschick, Kommunikationsgeschick, Seelenruhe, Barmherzigkeit und hochprozentiger Alkohol, das illustriert Amado an diesem Beispiel umfassend, die sind erforderlich, um solch einen vollwertigen Menschen zu formen: «Der Neger bat Coroca, die Laterne so zu halten, dass sie die Mundhöhle ausleuchtete, dann lockerte er ganz vorsichtig das Zahnfleisch mit der Dolchspitze; feine Blutrinnsale liefen der Frau aus den Mundwinkeln. Manuel Bernades wandte den Blick ab, starrte ins Leere. Lautlose Stille, nur das unterdrückte Stöhnen der Gepeinigten war zu hören; wenn die Klinge stach, zuckte sie jedes Mal zusammen». … 

Ich hänge mich hier mal aus dem Fenster und garantiere dafür, dass von den mitleidenden Lesern bis zum Ende dieser Szene niemand einschlafen wird, obwohl es doch nur um einen entzündeten Zahn geht. Eben drum – sozusagen …

Szenen in ihrem Detailreichtum sind überhaupt die hohe Schule der Literatur – nicht nur als wirksamstes Instrument der «Leserbindung». In magischer «Verdichtung» lässt sich die Widerständigkeit der Schrift, des bloß Symbolischen, hier endlich einmal überwinden: Aus den Worten werden die Dinge. In einem Zitat von Scott Fitzgerald: «Nur durch die vollkommene Einheit von Form und Substanz kann das Licht magischer Suggestionskraft die banale Oberfläche der Worte für einen flüchtigen Augenblick überspielen".

Darum, um mit der Magie der Unmittelbarkeit Leser zu finden, sollten auch wir uns am Mikrokosmos des Szenischen versuchen. Unsere Erinnerung bietet uns Stoff und Details genug, bleibt eigentlich «nur» die Überhöhung ins Allgemeingültige …

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