Konfliktfähigkeit: Harmoniesucht ist eine Stolperfalle

Aus Angst vor Ablehnung verhalten sich harmoniebedürftige Menschen oft übertrieben angepasst. Provokativ könnte man behaupten: Ihr großes Talent ist die Fähigkeit, sich selbst unsichtbar zu machen. Ein fragwürdiges Talent. Denn wer dauernd seine eigenen Bedürfnisse, Meinungen und Wünsche verleugnet, tut damit weder sich selbst, noch seinen Freundschaften und Beziehungen wirklich einen Gefallen.

Harmonie wird oft überbewertet: Konfliktfähigkeit ist die höhere Tugend

Harmoniesüchtige Menschen sind durchaus beliebt, kaum einer wird das bestreiten. Sie sind sanftmütig und hilfsbereit, aufmerksam und bis zur Selbstaufopferung zuvorkommend. Somit sind sie durchaus angenehme und pflegeleichte Zeitgenossen: Immerhin sind sie jederzeit für einen Freundschaftsdienst, ein paar Überstunden oder eine kleine Extraschicht zu haben. Harmoniebedürftige Menschen sind aber auch ausgesprochen gute Zuhörer: Sie fühlen sich in ihre Mitmenschen ein und sind erstaunlich gut in der Lage, für Gott und die Welt unerschöpflich Verständnis aufzubringen. Selbst wenn ihnen Unrecht geschieht, fällt es ihnen nicht schwer, sich in ihre Peiniger hineinzuversetzen („Das hat er doch nicht so gemeint!“) und sogar Entschuldigungen für sie zu finden („Ja, es stimmt schon: Er hätte mich vielleicht nicht schlagen sollen, aber er stand eben unter Stress und ich war doch auch unerträglich!“) Um ihren Mitmenschen zu gefallen und weil sie die Erwartungen ihrer Umwelt nicht enttäuschen wollen, nehmen sie im Zweifelsfall lieber sich selbst zurück. Frei nach dem Motto „Wer jetzt zurücksteckt, wird später belohnt“ unterdrücken sie dabei ständig die eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Damit jedoch tun sie sich selbst keinen Gefallen: Das harmoniesüchtige Verhalten beschädigt auf Dauer nicht nur das eigene Selbstwertgefühl, sondern es schadet auch erheblich ihren Freundschaften und Beziehungen. Glücklicherweise jedoch kann man Streiten lernen.

Harmoniesucht: Wer ständige Harmonie sucht, verliert sich selbst

Harmoniesüchtige Menschen fühlen sich stark verantwortlich für das Wohlergehen ihrer Mitmenschen. Deshalb versuchen sie ständig herauszufinden, was in ihrem Gegenüber wohl gerade vorgehen könnte, was seine situativen Beweggründe, Bedürfnisse oder Wünsche sein mögen. Nicht immer steckt tieferes Interesse hinter den Erkundungen. Stattdessen verbirgt sich dahinter meist die Absicht, etwas über die Erwartungshaltungen der Mitmenschen zu erfahren, so dass es möglich wird, sich diesen Erwartungen gemäß zu verhalten. Das eigene Verhalten wird demnach stark an die realen oder phantasierten Erwartungen der Umgebung angepasst. Um andere Menschen nicht zu enttäuschen, werden die eigenen Wünsche und Bedürfnisse dabei ständig heruntergespielt, in die Zukunft verschoben oder sogar vollständig verleugnet. Um dies leisten zu können, unterdrücken bzw. ignorieren harmoniesüchtige Menschen zwangsläufig die eigenen Empfindungen. So sind sie emotional wenig bei sich selbst, und fixieren sich stattdessen stark auf ihre Umgebung. Hängt der berühmte Haussegen schief, geht ihnen das regelrecht an die eigene Substanz. Selbst wenn Dritte streiten, fühlen sie sich dafür verantwortlich, zwischen den Parteien zu vermitteln. Dabei übernehmen sie eine Menge Verantwortung, die eigentlich gar nicht bei ihnen liegt.

Mangelnde Konfliktfähigkeit basiert auf falschen Vorstellungen

Wer zwischenmenschlichen Konflikten häufig aus dem Weg geht und bevorzugt klein beigibt, tut dies in der Überzeugung, sich nur auf diese Weise die Wertschätzung und Anerkennung seiner Mitmenschen zu verdienen. Dem konfliktängstlichen Verhalten liegen also gleich mehrere Irrtümer zugrunde:

  1. Anerkennung lässt sich nicht kaufen: die missverständliche Annahme, man könne über das eigene Tun oder Nichttun entscheidenden Einfluss darauf nehmen, inwiefern man als Person respektiert bzw. gemocht wird. Der Versuch, die Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Person bei anderen Personen aktiv steuern zu können, ist leider von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Stattdessen ist sogar das Gegenteil der Fall: Wer sich selbst und die eigenen Bedürfnisse ernst nimmt und für sie einsteht, erntet in der Regel nicht nur mehr Anerkennung, sondern ist bei seinen Mitmenschen sogar beliebter. Immerhin weiß man bei ihm, woran man ist – was die Kommunikation deutlich erleichtert. Zudem wirken Menschen, die wissen, was sie selbst wollen, und sich nicht nur nach ihrer Umgebung richten, gerade deshalb auf ihre Mitmenschen anziehend und charismatisch.
  2. Gute Beziehungen brauchen Augenhöhe und Reibung: die irrationale Angst, dass ein angemessenes Abgrenzen vom Gegenüber nicht ertragen werden würde, weil Konflikte die Beziehung (der Vermutung nach) zu stark belasten. Demgegenüber sei anzumerken, dass die meisten Freundschaften und Beziehungen ein sehr viel höheres Maß an Dissonanzen, Meinungsverschiedenheiten etc. aushalten würden – und nicht zuletzt: wollen. Tatsächlich ist es so, dass eine stabile zwischenmenschliche Beziehung langfristig nur auf Augenhöhe funktioniert. Wer Beziehungen und Freundschaften in dieser Hinsicht unterschätzt, beraubt sie nicht zuletzt ihrer Entwicklungspotentiale. Hinzu kommt: Viele harmoniesüchtige Menschen führen ein heimliches Schuldkonto. Für jeden Verzicht, für jedes Zurückstecken wird eine imaginäre Rabattmarke aufgeklebt. Kein Freund der Welt jedoch will dauerhaft in Ihrer Schuld stehen. Anders ausgedrückt: Wer ständig nur gibt, aber selten einmal nimmt, zwingt dem Gegenüber eine Schieflage auf, die auf Dauer jede Beziehung belastet.
  3. Es Allen Recht machen geht nicht: die absurde Idee, man könne es überhaupt allen recht machen erscheint umso verhängnisvoller, sobald man sich einmal vor Augen führt, dass – selbst bei den angestrengtesten Versuchen, es allen recht zu machen – am Ende doch immer noch mindestens eine Person übrig bliebe, dessen Bedürfnisse nicht erfüllt werden: Sie selbst.

Konfliktfähigkeit lernen: Es braucht Mut zur eigenen Wahrheit

Ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis fällt nicht vom Himmel. Betroffene haben in ihrer Kindheit oft zu hören bekommen, dass die eigenen Bedürfnisäußerungen und Wünsche unangemessen und egoistisch seien. Gerade für Kinder sind solche Vorwürfe sehr verletzend. Um sich vor diesen Verletzungen zu schützen, beschließen manche Kinder, sich die Blöße der Zurückweisung nicht mehr zu geben. Zurückhaltung und Passivität in Bezug auf die eigenen Gefühle soll sie dann vor weiteren Zurückweisungen schützen. Das Dilemma des pflegeleichten Musterkinds jedoch ist folgendes: Kein Mensch ist dauerhaft bedürfnislos oder ohne Ecken und Kanten. Jeder hat sogar das Recht auf seine – ganz eigenen – Bedürfnisse und Befindlichkeiten, Wahrheiten und Wünsche. Sie zurückzuhalten, mag in der Kindheit ein äußerst sinnvoller Mechanismus gewesen sein, um sich effektiv vor Zurechtweisung und Ablehnung zu schützen. Im Erwachsenenalter jedoch ist der vormals bewährte Selbstschutzmechanismus überhaupt nicht mehr angemessen. Was Sie einst geschützt hat, stellt dann keinen Selbstschutz mehr dar, sondern verkehrt sich ins Gegenteil und ist faktisch – eine Selbstverletzung. Die gute Nachricht indes ist: Sie sind erwachsen. So haben Sie letztlich die Möglichkeit, sowie sich selbst gegenüber sogar die Pflicht, längst überholte und untaugliche Verhaltensweisen durch vernünftigere zu ersetzen.

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