Die Stilsaga der Sprachkritik

Der Urahn aller Sprachkritiker – Wustmann möge mir verzeihen – ist Eduard Engel: Die Stillehre dieses Altphilologen – jemand also, der sich mit den alten Sprachen befasst – erreichte in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik unglaubliche 31 Auflagen. Das sind Zahlen, von denen sogar ein Bastian Sick heute träumt. Kurzum: Der «Engel» war in jedem bürgerlichen Bücherschrank zu finden, überall dort, wo ein Filius oder eine Filia mit Schulwissen über deutsche Sprache traktiert wurde.

Das Lustige für heutige Leser an seinen Texten ist, dass sich fast «der gesamte Wolf Schneider» schon «in nuce» hier vorgeformt findet: Der kurze Satz wird gelobt, das Adjektiv verteufelt, die «Fremdwörterei» beschimpft, die Verwechslung von «als» und «wie» mit dem Untergang des germanischen Abendlandes gleichgesetzt – kurzum: alles steht schon dort, wo es gegenwärtig auch im trauten Heim unserer Sprachkritiker zu finden ist. Nur dass Engels Beispiele natürlich noch nicht aus «Zeit» und «Frankfurter Rundschau» stammen können. 

Auch das konservative Pathos, das Sprachverfall mit nationalem Untergang gleichzusetzen geneigt ist, tönt hier wie die Posaunen von Jericho. Damals schon heißt es: «Unter allen schreibenden Völkern sind die Deutschen das Volk mit der schlechtesten Prosa». Ein wissenschaftlicher Beleg für diese kühne Behauptung erübrigt sich einst wie heute, so etwas spürt der germanische Recke in seiner Heldenbrust, von Anfang an liest der Areopag der Sprachkritiker im Kaffeesatz: «Diese Tatsache braucht nicht erwiesen zu werden, sie steht nach dem Urteil der berufenen Kenner der Sprache und des Stiles fest» (S. 9). Und damals wie heute war auch schon jeder berufen, ob Industriekaufmann (Ludwig Reiners) oder Journalist (Wolf Schneider), sofern er nur in dieses  Klagelied des sprachkritischen Gesangsvereins aus voller Brust einzustimmen wusste.

Manche Traditionslinien, die von Engels Sprachkritik aufs nahegelegene politische Gebiet führen, sind nicht nur komisch, sondern erschreckend, wie hier der Gebrauch des Adverbs «minderwertig»: «Das Fremdwort ist minderwertig: jedes Prosastück voll Schwung und Weihe beweist das" (S. 217). Und: «So gemein. wie sie wirklich sind, müssen die Fremdwörter für das Volksgefühl werden» (S. 218). Vielen «Fremden» ging es bekanntlich kurz darauf so …

Wer sich also informieren möchte, wo unsere heutigen Sprachkritiker ihren Most beziehen, der möge an «dem Engel» nicht vorbeigehen – auch deshalb, weil er dann auch auf jene überreiche Zitatquelle stößt, wo schon damals die Beispiele der heutigen Texte sprudelten.

  

Schreiben Sie Ihre Meinung

Ihre Email-Adresse wird Mehrere Felder wurden markiert *

*